Antlitz. Würde. Schmerz.


Antlitz. Würde. Schmerz.
30. April bis Ende September 2022 im Schloss der Lutherstadt Wittenberg
(Kurator: Christhard G. Neubert)

Gedanken zur Sommerausstellung der Stiftung Christliche Kunst Wittenberg
Von Christhard-Georg Neubert

Arbeiten auf Papier locken Besucherinnen und Besucher in ein stilles Stelldichein in die intimen Räume der Stiftung Christliche Kunst. Aus der Fülle der stiftungseigenen Sammlung präsentiert eine thematische Ausstellung das breite Spektrum menschlicher Suche nach Glück und Unversehrtheit im Spiegel der Kunst.  
Faszinierend zu spüren, mit welchem Ernst, mit welcher Emphase und künstlerischer Formgebung die hier zu sehenden Bildwerke um Auge und Geist der Betrachter werben. Es ist, als wäre auf je unterschiedliche Weise allen Bildwerken dieselbe Frage eingeschrieben: ‚Was ist der Mensch‘?
Vor den archaischen Holzschnitten etwa eines Schmidt-Rottluff oder vor Emil Noldes ‚Prophet‘ hört man förmlich das Holz splittern unter dem Einsatz des Messers. Hell-Dunkel-Kontraste beherrschen durchgehend die Szene. Sie befördern die Konzentration des Auges auf das Wesentliche. Manchmal faszinieren in zarten Halbtönen gearbeitete Blätter, wie etwa der ‚Heimsuchung‘, von Käthe Kollwitz; da wird das bergende Dunkel gleichsam zur ‚Würdeformel‘ (B.-W. Lindemann).
Sobald wir uns einlassen auf die starken Bildzeichen dieser Ausstellung merken wir, in welchem Ernst für das bedrohte Individuum künstlerisch eingestanden wird. Wir werden Zeugen jener Parteinahme, die sich nicht abfindet, mit dem, was ist. Kein Sich-Abfinden spricht aus den Blättern! Stattdessen Parteinahme für die unveräußerlichen und doch permanent in Frage gestellten, bestrittenen, nicht selten schutzlos dem Hohn und Spott ausgesetzten Rechte des Menschen auf Würde, auf Unversehrtheit und Freiheit von Gewalt.
Alle Künstlerinnen und Künstler, die sich in dieser Ausstellung zu Wort melden, verzichten auf Bildstrategien, die im heutigen Kunstbetrieb vielfältig anzutreffen sind: wie etwa Ironie oder hintersinnigen Humor. Diese Strategien haben die Sehgewohnheiten wohl der meisten Menschen weitgehend geprägt. Der Verzicht auf sie mag irritieren; mag dazu beitragen, dass uns manche der hier gezeigten Arbeiten fremd erscheinen. Kein Wunder: ausnahmslos allen Bildwerken sind die Schrecken und das Leid der Weltkriege, die Abwesenheit von Frieden, der Schmerz über die Folgen von Kummer und Leid zutiefst eingeschrieben. Angesichts des kriegerischen Überfalls auf die Ukraine und des Leids der Geflüchteten spüren wir fast bedrängend die bleibende Aktualität dieser Kunstwerke.
Vor diesem Hintergrund ist es lohnend zu verstehen und nachzuvollziehen, dass und wie biblische Bilder, Gleichnisse, Szenen den Stoff hergeben, um existentielle Grundfragen menschlichen Lebens zu thematisieren. Bei näherem Hinschauen wird erkennbar, dass und wie selbst die jüngste Kunst durch die abendländische-christliche Tradition geprägt wird. Davon gewinnt einen Eindruck, wer den jüngsten Arbeiten hier versammelter Künstler begegnet, wie etwa Katherina Belkina. Ihre Arbeit ‚The Sinner‘ (s. Abb.) könnte vielleicht als ein früher Beitrag zur MeToo-Debatte gelesen werden. Aber wie alt das Thema ist, verdeutlicht der biblische Bezug ihres Bildes. ‚Lucifer‘ und ‚Erzengel Michael‘ des Leipziger Malers Michael Triegel stehen wie zwei Antipoden nebeneinander. Aus christlicher Sicht ist ja der Kampf zwischen den Kräften der Finsternis und den Kräften des Lichtes entschieden. Vielleicht aber auch nicht. Wieviel von dieser Gegensätzlichkeit tragen Menschen in sich und wie begegnen sie diesem Phänomen? Die neue Ausstellung zieht die Besucherinnen und Besucher hinein in das stets unabgeschlossene Geflecht von Fragen, deren Antworten nur eine begrenzte Halbwertzeit haben.


Finissage: Antlitz. Würde. Schmerz.
artTALK: Die Theologin Dr. Hanna Kasparick (Wittenberg) im Gespräch mit dem Gehirnforscher und Psychotherapeuten Univ.-Prof. Dr. med. Joachim Bauer (Berlin). Moderation: Christhard-Georg Neubert
Schloss Wittenberg
30. September 2022, 17:30 Uhr

Eine deutsche Wochenzeitung titelte kurz vor der Eröffnung unserer aktuellen Ausstellung: „Wer schreit Gott herbei“? Unter dieser Überschrift war ein Foto abgebildet, dass zeigt, wie eine verletzte, schwangere Frau von ukrainischen Rettungskräften und Freiwilligen aus der bombardierten Geburtsklinik von Mariupol in Sicherheit gebracht wird. Später wurde bekannt, dass weder die Mutter noch das Kind den russischen Bombenangriff überlebten.
„Wer schreit Gott herbei?“ Das ist eine der zentralen Fragen, die unsere aktuelle Ausstellung thematisiert. Und zugleich ist es diese Frage, die unzählige Menschen angesichts von Krieg und Gewalt in vielen Teilen der Welt und zu allen Zeiten zur Verzweiflung bringt bis an diesen Tag. Im Gegenüber erhebt sich die Frage, ‚Was ist der Mensch‘, dass er nicht davor zurückschreckt, seinesgleichen Gewalt anzutun? Die biblische Erzählung von Kain und Abel zählt sogar den Brudermord zu den dramatischen Möglichkeiten menschlichen Handelns. Es sind diese und andere biblische Erzählungen, die Künstlerinnen und Künstlern das Material liefern, um aktuelle Fragen menschlicher Existenz ins Bild zu setzen. Nachdenkliche und begeisterte Eintragungen im Gästebuch unserer aktuellen Ausstellung zeigen eindrucksvoll, dass sie ihre Besucher aus weiten Teilen Deutschlands und dem Ausland gefunden hat.
Am Ende des Ausstellungszeitraums lockt noch einmal ein Höhepunkt zum Besuch. Mit einem artTALK schließt die Ausstellung ihre Pforten. Die Wittenberger Theologin, Buchautorin und langjährige Direktorin des Evangelischen Predigerseminars Dr. Hanna Kasparick diskutiert mit dem Berliner Arzt Prof. Dr. Joachim Bauer. Der Gehirnforscher und Psychotherapeut ist Autor zahlreicher Sachbücher. Zuletzt erschient Das empathische Gen – Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen. Herder, 2021.


Picasso in Wittenberg?!
Astrid Hötte, Kunstlehrerin am Luther-Melanchthon-Gymnasium Wittenberg

Mit diesem Namen, der der Inbegriff der modernen Kunst zu sein scheint, köderte die Kunstlehrerin ihre siebente und achte Klasse. Nach langer Zeit ohne Ausflüge und Projekte waren die 13- bis 15-Jährigen dafür zu begeistern. Natürlich lockte auch die Aussicht auf ein Eis am Schlosspavillon, aber Unterricht außerhalb der Schule ist nach Corona wieder „cool“ geworden. In den kleinen, aber feinen Räumlichkeiten der Stiftung wurde die aktuelle Ausstellung „ANTLITZ. WÜRDE. SCHMERZ.“ von den Jugendlichen selbstständig entdeckt und erkundet. Jede und jeder musste sich neun Aufgaben stellen, die vom Allgemeinen zum Speziellen gingen. Herausgekommen sind sehr schöne eigene Interpretationen und kurze Kompositionsskizzen der ausgestellten Kunstwerke, die sich die Schüler zur Bearbeitung selbst aussuchten. Keith Haring war natürlich dabei, aber auch George Grosz, Otto Dix, Käthe Kollwitz, Marc Chagall, Michael Triegel, Bernard Buffet, Damien Hirst und die ausgestellte Fälschung (Dali). Tatsächlich gelang es, die Schüler eine gute Stunde (manche blieben auch länger) arbeitend in der Ausstellung zu behalten. In den Augen der Jungen spiegelt sich die Kunst noch einmal anders. Die Räume waren gefüllt von Gemurmel und Getratsche, aber es gab auch Phasen konzentrierten Betrachtens und Zeichnens. Die Ausstellungskataloge wurden gewälzt und die Mitarbeiter der Ausstellung wurden befragt. So kann Kunst erwecken und selbst erweckt werden. Junge Künstler müssen mit Kunst in Berührung kommen. Einige verheißungsvolle Talente sind dabei gewesen. (Fotos vom Ausstellungsbesuch.)

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