Thea Schleusner

Thea Schleusner im Wittenberger Dialograum der Kunst

von Christhard-Georg Neubert

Für die kommenden Monate ist die Stiftung Christliche Kunst Gastgeberin für eine Ausstellung, die einer umfassenden Werkschau gleicht und an vier Orten in der Stadt Wittenberg zu sehen ist. Unter dem programmatischen Titel ‚Ein Leben für die Kunst – die expressionistisch symbolistische Welt der Thea Schleusner‘ werden in den Städtischen Sammlungen, dem Alten Rathaus, der Cranach-Stiftung und in unseren Räumen Arbeiten der in Wittenberg geborenen Künstlerin zu sehen sein.

Kaum ein Ort erscheint geeigneter für das temporäre Zwiegespräch mit den Kunstwerken der Thea Schleusner als die Sammlung der Stiftung Christliche Kunst Wittenberg. Denn hier findet sich ein außergewöhnlicher Resonanzraum für jene Werke, die Thea Schleusner im Rückgriff auf Themen und Formen christlicher Ikonografie geschaffen hat. Thea Schleusner Arbeiten treten in einen experimentellen Dialog mit Exponaten aus dem Bestand der Sammlung. Zum einen finden sich Arbeiten von Zeitgenossen, mit denen Thea Schleusner aller Wahrscheinlichkeit nach in Kontakt stand, wie Käthe Kollwitz, oder deren Kunstsprache sie zumindest kannte, wie die von Franz Marc, Paul Gauguin Max Pechstein oder Otto Dix. Zum anderen werden Zwiegespräche angestoßen mit Werken, die über die Zeitgenossenschaft weit hinausreichen – wie etwa die Arbeiten von Joseph Beuys, Paul Sinkwitz, Thomas A. Straub und Arnulf Rainer.

Erstmalig können Thea Schleusners christlichen Themen gewidmete Arbeiten im sparsamen Gegenüber zu Darstellungen wahrgenommen werden, die sich einem verwandten Impetus verdanken: nämlich der Notwendigkeit ihrer Urheber, sich unter Nutzung christlicher Ikonografie auszudrücken. Bei aller Verschiedenheit der Stile und Ausdrucksmittel kreisen die Arbeiten Thea Schleusners ebenso wie die dialogisch platzierten Arbeiten der Sammlung immer wieder um die Frage, ob und wie sich das Unsichtbare zur Darstellung bringen lässt.

Im Mittelpunkt des Segments der Werkschau, das in der Stiftung Christliche Kunst gezeigt wird, stehen drei allesamt aus dem Jahr 1947 stammenden Zyklen. Sie thematisieren zentrale Texte der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments. Es handelt sich um die Zyklen „Die Schöpfung“, „Die sieben Worte des Erlösers am Kreuz“ und „Das Vaterunser“. Sie werden hier erstmalig vollständig oder nahezu vollständig in einer Ausstellung präsentiert. Im gleichen Jahr ist der – an einem anderen Ort der Ausstellung gezeigte – ebenfalls fast vollständig erhaltene Passionszyklus entstanden. In diesem, aber noch mehr in dem Zyklus ‚Die letzten sieben Worten des Erlösers am Kreuz‘ stellt Schleusner in zum Teil drastischer Bildsprache die Leidensgeschichte von Jesus Christus in das Zentrum ihrer Arbeiten. Siebenmal zeigt sie das vom Leid zermarterte Gesicht des Sohn Gottes. Es bliebe der Schleusnerforschung vorbehalten herauszufinden, ob die Künstlerin die am Karfreitag 1787 in Cadiz uraufgeführte Passionsmusik Joseph Haydns zu den biblischen letzten Worten Jesu kannte. Sowohl die Orchesterfassung (1787) wie das auf ihr basierendes Oratorium für Soli, Chor und Orchester, erst 1796 entstanden, gehören neben den Passionsmusiken von J. S. Bach bis heute zu den ergreifendsten musikalischen Werken, die dem Publikum bis heute das Passionsgeschehen Jesu und seine heilsgeschichtliche Bedeutung verständlich machen.

In diesem Zyklus dürfte der unmittelbare Reflex der gläubigen Christin auf die gerade erst durchlebten Schecken des Zweiten Weltkriegs zur Darstellung kommen. Vor diesem Hintergrund lassen sich Schleusners Bilder 79 Jahre nach dem Ende des Epochenbruches vielleicht besser entschlüsseln. Dieser Krieg lässt Schleusner große Teile ihres Lebenswerks und bei der Rettung von Skizzenbüchern aus ihrem in Flammen aufgegangenen Atelier fast ihr Leben verlieren. Auch Ausdruck ihrer eigenen Zweifel kommen ins Bild: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, so die Worte im IV. Teil des Zyklus, die Schleusner verso auf das Bild in ihrer eigenen Handschrift geschrieben hat. In ihrer ebenfalls 1947 verfassten Semi-Biographie findet sich fast der gleiche Satz, wenn Schleusner ihre Protagonistin nach dem Verlust des Lebenswerkes sagen lässt: „Es ist genug; was geschah, geht über das Maß der Kraft…. Denn du Gott hast uns verlassen in der größten Not.“ Er drückt aber auch ihren unerschütterlichen Glauben und ihr Vertrauen in die Existenz Gottes aus, schließt der Zyklus doch mit den Worten: „Vater, in deine Hände begebe ich meinen Geist.“ Der Künstlerin, die ihre prägende Sozialisation in einem evangelischen Pfarrhaus empfing, dürfte bewusst gewesen sein, dass Glaube und Zweifel wie Geschwister untrennbar nebeneinander bestehen als Grundkonstanten einer aufgeklärten christlichen Existenz.

So wird es kaum ein Zufall sein, dass im gleichen Atemzug wie die Passion und die Kreuzigungsgeschichte die beiden anderen Zyklen entstehen. In ihrem VII. Teil des Schöpfungszyklus findet sich auf der Rückseite in Schleusners Handschrift: „Und Gott sprach, lasset uns Menschen machen am Bild, das uns gleich sei“. Trotz aller Erschütterung verliert Schleusner nicht ihre Hoffnung in das Gute im Menschen und dessen Errettung. Es mag diese Haltung sein, die der Künstlerin die Kraft zuwachsen lässt, das zentrale Gebet des Christentums, das ‚Vaterunser‘ in Bilder umsetzen, als Ausdruck des Glaubens, dass auch nach den unfassbaren Gräueln des Zweiten Weltkriegs Aussicht auf Vergebung und Erlösung besteht.

Die Präsentation dieser Werke Thea Schleusners in Korrespondenz zu Arbeiten aus der Sammlung Christliche Kunst Wittenberg ereignet sich in einem Moment unserer Kulturgeschichte, in dem der aus der Vergangenheit überkommene, geerbte Formenschatz allgemein so zugänglich ist wie er es niemals zuvor war. Und gleichzeitig bleibt festzustellen, dass dieser Formenschatz bis hin zu seinen Gegenständen von Vergessen und Unverständnis bedroht ist. Umso mehr ist die Arbeit der Stiftung Christliche Kunst von der Dringlichkeit überzeugt, einen Beitrag dafür zu leisten, dass dieser Schatz in seiner überraschenden Vielfalt, seiner geistigen Tiefe, Farbigkeit und staunenswerten Weite erhalten und lesbar bleibt.

Darum wagt die Stiftung Christliche Kunst Wittenberg seit dem Jahre 2020 programmatisch den Versuch, temporär Korrespondenzen zwischen Kunstwerken der Sammlung und externen Werken der aktuellen Kunst zu ermöglichen. Erstaunlicherweise hat sich dabei gezeigt, dass in einem vermeintlich vollkommen säkularen Zeitalter Künstlerinnen und Künstler ganz offenkundig nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit sehen, sich unter Inanspruchnahme religiöser Thematiken auszudrücken. Die Vorgehensweise bei der Einrichtung derartiger Dialogausstellungen folgt dem Prinzip einer organisierten Betrachtung von beabsichtigten und unbeabsichtigten Korrespondenzen, eines Spaziergangs an den Bildwerken entlang bis hin zur Meditation vor den Darstellungen.

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog, der in der Stiftung für 59 € erworben werden kann. Für den Besuch aller vier Ausstellungsorte wird ein Ticket für 12,50€ angeboten; ermäßigt: 10,50€.

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