Lieber Herr Lehmpfuhl, Sie haben sich mit Werken von Lovis Corinth beschäftigt und diese zum Ausgangpunkt für eine dialogische Auseinandersetzung mit Themen der christlichen Ikonografie genommen. Was hat sie daran gereizt? Und warum Lovis Corinth?Seit ganz frühen Jahren ist Lovis Corinth einer meiner größten künstlerischen Vorbilder. Ich habe als Student eine Corinth-Ausstellung gesehen und war begeistert, weil ich gemerkt habe, dass der Impressionismus, die Form der Malerei, die mir so am Herzen liegt, nicht nur in Südfrankreich oder in Italien ausgeübt werden kann, sondern auch in Deutschland, auch bei grauem Himmel. Sein Berliner Stadtschloss war damals der Startschuss für mich, dass ich gesagt habe: Ich fahre jetzt mit dem Fahrrad durch die Stadt und male vor Ort in einer ähnlichen Manier und versuche daraus meinen eigenen Stil zu entwickeln. Als die Anfrage von Ihnen kam, ob ich mir vorstellen könne mit den Alten Meistern in einen künstlerischen Dialog zu treten und ich mir den Sammlungskatalog der Stiftung Wittenberg angesehen habe, bin ich bei einer Kreuzigungsszene, einem Holzschnitt von Corinth, hängengeblieben. Ich nahm sein grafisches Werk als Ausgangspunkt für die Umsetzung eines Zyklus über das Leben Jesu.
Können Sie erläutern, was die besondere Handschrift von Corinth ausmacht?Wenn ich seine Malerei betrachte, Ecce Homo zum Beispiel oder später die Walchensee-Bilder, dann fasziniert mich daran sein gewisses Maß an Abstraktion. Das ist kein reiner Realismus, kein Abbild der Wirklichkeit, das statisch ist wie – was auch wunderbar ist: bei Caspar David Friedrich –, sondern es hat eine Lockerheit und Lebendigkeit. In der Zeit, als er seinen Schlaganfall hatte, sind seine stärksten Bilder entstanden. Ich habe mich mit meinen eigenen Arbeiten immer wieder auf ihn bezogen und ihm einige Hommagen gewidmet.
Vom Ausgangspunkt Lovis Corinth haben Sie die Linie zu anderen bedeutenden Künstlern verlängert, mit denen sie in einen Dialog getreten sind. Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie diese Auswahl getroffen?Der christliche Bezug ist bei Corinth überschaubar. Sich nur an Corinth anzulehnen, hätte mir nicht ausgereicht, um ein Gesamtbild vom Leben Jesu zu entwerfen. Deswegen habe ich in der Kunstgeschichte nach Themenbereichen gesucht, die für die Person Christi bezeichnend sind. Immer wieder bin ich auf Rembrandt gestoßen, auf Caravaggio oder auf Noldes Christus und die Kinder. Bei Dürer bin ich hängen geblieben, wenn es um das Gebet ging, und bei Leonardo da Vinci, wenn es um das Abendmahl ging. Die Perfektion und der Ausdruck von Michelangelos Pietà im Petersdom hat mich vor vielen Jahren stark beeindruckt. Bei allen Alten Meistern, auch wenn sie anders gearbeitet haben – von der Malerei, Bildhauerei, der Grafik her –, habe ich versucht, den besonderen Duktus Corinths weiterzudenken. Wie hätte Corinth diese Sache umgesetzt? Und ich habe Farbe reingebracht. Oder aber: Rembrandt hat von seiner Radierung Die Drei Kreuze immer wieder Zwischenstadien gedruckt, zum Beispiel war vorne noch ein Reiter zu sehen und das Figurenarrangement war anders. Das Motiv, das ich am Ende umgesetzt habe, gibt es gar nicht als fertiges Kunstwerk. Das bedeutet für mich künstlerische Freiheit. Dass ich mich auf etwas beziehe und gleichzeitig etwas Eigenes entwickele. Darum geht es mir.
Das empfinde ich als das Gelungene dieser Zusammenarbeit. Sie haben 20 Monotypien geschaffen und damit 20-mal wesentliche Themen in der Biografie Christi aufgegriffen. Dabei haben Sie zentrale Themen aber auch weggelassen. Ich habe voller Spannung immer geschaut: Womit wird sich Christopher Lehmpfuhl beschäftigen? Ich wollte ganz bewusst nicht auf Themen lenken, sondern schauen, auf welche Themen Sie selbst kommen. Deswegen meine Frage: Wie entstand Ihre Auswahl?
Es ist in der Tat schwer. Ich hatte mir ein Limit von 20 Monotypien gesetzt. Ich wollte Christus als den Menschen darstellen, der unter den Menschen lebt, der die Kinder liebt, der sagt: Werdet wie die Kinder. Oder den Christus, der der Fels in der Brandung ist, weswegen mich auch Christus im Sturm von Rembrandt angeregt hat. Sein Bild ist für mich essentiell, weil auch wir gerade in stürmischen Zeiten leben, in denen Ängste und Unsicherheiten hochkommen.
Das führt mich zu einer weiteren Frage, nämlich: Welche Bedeutung spielt die Auseinandersetzung mit biblischen, mit Themen aus der christlichen Ikonografie in Ihrem Werk?Ich behaupte, dass ich ein christlicher Maler bin, aber eben nicht christliche Motive male. Mein Thema ist das Licht, und Licht hat ja auch eine christliche Bedeutung. Christus ist das Licht der Welt, und für mich symbolisiert es letztendlich Gott. So gesehen, geht es mir darum, den Menschen mit dem Licht auch Hoffnung zu geben. Christliche Motive waren bislang kein Schwerpunkt meiner Arbeit, und deswegen war ich auch so dankbar dafür, Neuland betreten zu können. Wer weiß, wo das hinführt? Wenn wir jetzt die Kirchenfenster angehen, dann könnte daraus bis zum Jahresende etwas Neues erwachsen.
Wie würden Sie die Frage beantworten, ob Werke so etwas sind wie Fenster?Diese Frage würde ich auf jeden Fall bejahen. Allen Kunden, die sagen: Das Bild ist zu groß für mein Zimmer, sage ich: Das Bild ist ein Fenster. Das sage ich nicht als verkaufsfördernde Maßnahme, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass etwas darin lebt, das neugierig macht und in das man eintreten kann. Und wenn man eintreten kann, vergrößert es automatisch den Raum. Dann hat man eine Landschaft, eine Architekturdarstellung oder eine Straßenszene, und man kann dort lustwandeln.
Ich verrate Ihnen jetzt mal, wie ich überhaupt auf Sie gekommen bin.Ja.
Sie haben eben noch einmal deutlich gemacht, wie sehr das Licht Sie interessiert. Als mir das klar wurde und ich Ihren Schloss-Zyklus näher studiert habe, dachte ich: Das ist eigentlich Ihr Thema. Es entstand der Wunsch, Sie anzusprechen. Für mich ist es jetzt auch ein konsequenter Schritt, dass Sie von Ihrer Leinwandmalerei danach streben, Glasfenster zu gestalten. In Ihrer Malerei, und das kommt ja auch in den 20 Monotypien zum Ausdruck, geht es immer um so etwas wie Durchsichtigkeit, Weitsichtigkeit, Horizont-Gewinnung oder um Spiegelungen. Daran knüpft sich eine Frage an, nämlich die nach den künstlerischen Mitteln. Sie haben sich für Monotypien entschieden. Warum?Für mich war klar, dass es eine grafische Auseinandersetzung sein muss, weil die Vorlage ein Holzschnitt war. Ich habe in diesem Jahr viele Linolschnitte gemacht und war mit dieser Hochdrucktechnik vertraut und hatte Lust dazu. Die Monotypie ist ja auch mehr als eine grafische Technik, nämlich eine Malerei mit grafischen Mitteln. Die meisten Motive sind spiegelverkehrt, was man mitbedenken muss. Aber das hat mich nicht gestört, weil die Bilder, wenn sie gut gemacht sind, auch gespiegelt funktionieren. Mein Lehrer Klaus Fußmann hat mal gesagt: Ein gutes Bild funktioniert von allen Seiten und müsste auch gespiegelt werden können. Er hat mir zum Beispiel immer gesagt: Wenn du nicht sicher bist mit einem Bild, schau es dir im Spiegel an. Wenn es gespiegelt ist, merkt man, wo irgendwo eine Asymmetrie ist, wenn irgendetwas stört.
Das führt mich zu meiner nächsten Frage. Dass und welche Ausschnitte Sie gewählt haben, war ja eine subjektive Entscheidung von Ihnen. Ist es richtig anzunehmen, dass Sie diese Entscheidung auf Grundlage der Frage getroffen haben: Was ist mir persönlich an dem Bild das Wichtigste?
Genau. Es ist natürlich immer schön, ein Bild in seinem Gesamtkontext zu sehen, aber in meinen Aquarell-Hommagen wähle ich Bildausschnitte. Ich denke, dass es am Ende auch für den Betrachter spannend ist, wenn er sich das Bild anschaut und sagt: Das kenne ich. Aber woher? Und dann fällt ihm ein: Ah, das ist das Emmausmahl oder Der ungläubige Thomas. In diesen Details habe ich noch einmal neu verstanden, wie genial Caravaggio zum einen mit Licht umgeht, aber wie er zum anderen in der Emmausmahl-Szene alle Elemente – die Haupt- und Nebendarsteller, die Stillleben – miteinander verbindet und zu einem Gesamtkunstwerk zusammensetzt. Das war wie eine Entdeckungsreise.
Das wäre vielleicht eine schöne Überschrift „Entdeckungsreise – im Dialog“. Sie haben eben angedeutet, dass Sie diese Auseinandersetzung mit vorhandenen biblischen Motiven bei von Ihnen geschätzten Künstlern fortsetzen wollen. Können Sie jetzt schon sagen, ob Sie in dieser Auseinandersetzung in der Formensprache der Monotypie bleiben werden oder ob Sie dafür auch andere malerische Mittel in Gebrauch nehmen?Ich kann mir gut vorstellen, das später auch einmal in Öl zu probieren. Aber gerade bei den Alten Meistern war es mir wichtig, sie in einer anderen Technik zu malen, als sie dies getan haben.
Für mich macht den besonderen Reiz Ihrer Monotypien aus, dass sie etwas Kommentarhaftes haben, eine Annäherung, aber gleichzeitig eine Distanzierung sind. Vielleicht können Sie mir zustimmen, wenn ich sage: Der Dialog ist auch ein kritischer Dialog und nicht bloß ein wahrnehmender Zugang. Ich denke, insbesondere bei Caravaggios Ungläubigem Thomas konnte dies besonders deutlich werden, weil der Ausschnitt auf wesentliche Elemente verzichtet, die im Bild vorhanden sind.Die Mimik von Jesus.
Genau.Mir ging es aber um den Thomas, mit dem ich mich identifiziert habe. Christus kommt und sagt: Fass in die Wunde, ich bin es. Und Thomas glaubt es nicht. Wir kommen im Leben öfter in Situationen, in denen wir zweifeln und nicht glauben. Der Hass auf Menschen ist ja die einfachste und schnellste Reaktion. Aber die Nächsten- und Feindesliebe im Alltag zu praktizieren, im Umgang miteinander, das ist schon etwas Besonderes. Und es ist auch etwas sehr Kluges und für mich auch der Ausweg aus dem Dilemma, in dem die Welt steckt.
So wie ich Jesus verstehe, stand er immer auf der Seite der Opfer. Und von daher sehe ich auch eine Brücke zu Thomas. Ich denke nämlich, dass der Zweifel der legitime Bruder des Glaubens ist. Dass nämlich der Glaube durch den Schmerz seiner Geburt – und das ist der Zweifel – hindurchmuss. Sonst ist der Glaube nicht viel wert.Richtig. Jesus lässt zu, dass einer seiner Jünger zweifelt, ein anderer ihn verrät, ein wiederum anderer verleugnet ihn. Das sind alles dramatische menschliche Szenen, die hochgradig interessant sind. Was hier emotional passiert, werde ich thematisch auch noch einmal umsetzen. Ich habe einen Satz aus einer Ausstellung in Basel in Erinnerung, in der Werke von El Greco und Picasso gegenübergestellt wurden. Picasso wurde gefragt, ob er sich künstlerisch weiterentwickele. Und Picasso meinte, dass die Zeit, in der ein Bild entsteht, überhaupt nicht entscheidend ist. Sondern für ihn ist wichtig, dass das Bild als Bild Bestand hat und dass es immer modern ist. Und: El Greco ist bis heute modern, und ein Rembrandt ebenfalls. Nur ein Bild, das sich in der Gegenwart behaupten kann, hat Bestand.
Ja, das ist ein Maßstab. Genauso verstehe ich Ihren Zugang zu den großen Meistern, die Sie in Ihren 20 Monotypien versucht haben. Wo ist der Punkt für Sie, dass Sie sagen, die Form der Annäherung in Form der Monotypie ist fertig?Jedes der Bilder ist für mich fertig. Und sie stehen für 20 Aspekte von Jesus. Als ich diesen Zyklus begonnen habe, ging es mir körperlich sehr schlecht.
Jetzt haben Sie mir schon eine Frage beantwortet, die ich Sie habe fragen wollen, nämlich die Frage des inneren Verhältnisses. Sie haben eben gesagt, dass Sie sich selbst in einem inneren Leidensprozesses befanden. Vielleicht zum Abschluss noch die Frage: Sie haben gesagt, dass Sie sich bisher mit biblischen Motiven nicht auseinandergesetzt haben. Gibt es einen Grund, warum Sie diese Auseinandersetzung neugierig gemacht hat?Es gibt viele Anknüpfungspunkte, aber man muss aufpassen, dass es am Ende nicht kitschig wird. Wenn es zu emotional, zu pathetisch wird, dann kippt es. Ich möchte, dass es wie bei dem Schwarz-Weiß-Zyklus am Ende eine klare Aussage gibt, die sich ungeschönt mit dem auseinandersetzt, um was es geht, mit dem Leben. Ich möchte klarmachen, dass die Alten Meister hochmodern sind. Sie haben einen Tiefgang und eine Modernität, aber auch die Geschichten drumherum haben heute Bestand.
Das ist wahr. Und deswegen habe ich Sie auch eingeladen und bin überzeugt davon, dass es Sinn ergibt, von diesem ganzen Bildervorrat, den die Bibel bereithält, Gebrauch zu machen und ihn künstlerisch zu diskutieren. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum diese Ausstellung die Leute, die sich die Zeit genommen haben, in diesen vergleichsweise kleinen Formaten, den großen Geschichten zu begegnen, so beeindruckt hat. Also: Im Ausschnitt Caravaggios das Wesentliche zu sehen. Im kleinen Motiv sich an den großen Zusammenhang zu erinnern. Im Grunde – korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch verstehe – sind Ihre Arbeiten in ihrer Komplettheit in ihrer Gültigkeit für sich genommen immer so etwas wie Impulse, auf das Ganze zu schauen.Genau. Diese Kunstwerke haben in dem Ausschnitt, den ich wähle, schon so einen Reichtum, an dem man sich gar nicht genug erfreuen und ergötzen kann.
Interview mit Christhard Georg Neubert und Christopher Lehmpfuhl
Berlin 2022