Auf ein Wort

Von Dr. Marlies Schmidt, Kunsthistorikerin, emer. Vorständin der Cranach-Stiftung Wittenberg

Ein lebloser männlicher Körper liegt auf einem Laken. Bleich, still. Der rechte Armt ruht auf dem Bauch, der linke neben dem Leib. Der muskulöse Körper ist unbekleidet, nur ein Tuch umhüllt die Lenden. Im Bildausschnitt werden Hals, Kopf und Unterschenkel ausgespart. Trotzdem ist der Tote nicht anonym. Eine blutende Wunde unter dem Herzen verweist auf seine Leidensgeschichte. 
 
Die Kreidezeichnung des Leipziger Künstlers Edgar Knobloch (geb. 1968) ist Blatt II einer Serie. Der Titel Vorstellung umschreibt das eigene Bild von etwas, das sich auf Erfahrung oder Erzählung gründet. Und in einer der wirkmächtigsten Erzählungen der Menschheit, in der Bibel, findet sich ein Hinweis auf das Motiv. Im Neuen Testament, u. a. bei Johannes, Kapitel 19,38–40, steht: „Darnach bat den Pilatus Joseph von Arimathia, … daß er möchte abnehmen den Leichnam Jesu. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu herab.“ Bei der Kreuzigung Christi waren viele Menschen anwesend: laut grölend, diskutierend, still klagend, schmerzverzerrt. Nur wenige blieben. Joseph von Arimathia löste Christus vom Kreuz. Eine Szene, die so nicht in der Bibel beschrieben wird, ist die sich daran anschließende sogenannte „Beweinung“: Johannes, Maria, die Mutter Jesu, sowie die drei Marien, Nikodemus und Joseph von Arimathia versammeln sich und trauern um den auf dem Boden liegenden Christus. Seit dem Spätmittelalter wird diese zutiefst menschliche Situation in der bildenden Kunst immer wieder gezeigt. Die Darstellungen gingen auf die mystische Bewegung zurück, in der sich der Wunsch nach einer intensiven persönlichen Erfahrung Gottes durch Versenkung, Meditation und Nacherleben artikulierte.
 
Edgar Knobloch verzichtet auf die Figuren – keine klagenden Marien, kein trauernder Johannes. Er zeigt nur den fragmentierten Blick auf den geschundenen Körper. Umso mehr spürt man die Verletztheit, die Einsamkeit, den Schmerz. Der Künstler reichte die 2009 entstandenen Zeichnungen der Serie Vorstellung zum Lucas-Cranach-Wettbewerb 2015 ein. Der Wettbewerb ging der Frage nach, welche Relevanz die Cranach-Werke für die zeitgenössische bildende Kunst haben. Zur Beweinung Christi waren mehrere Varianten in der Cranach-Werkstatt geschaffen worden, unter anderem befindet sich eine Darstellung auf einem Altar in der Nikolaikirche Jüterbog (Lucas Cranach d. Ä./Werkstatt, um 1515–1520, vgl. lucascranach.org).
  
Von den 639 Wettbewerbseinreichungen wählte die Jury 69 Beiträge aus, darunter Knoblochs Kreidezeichnungen Vorstellung II und Vorstellung III. Beide Grafiken zeigen das gleiche Motiv, unterscheiden sich jedoch in den Grauabstufungen. Knoblochs grobkörnige Kreidezeichnungen sind von einer gewissen Unschärfe. Schwarz in Schwarz entwickelt er Landschaften des Leids. Das serielle Konzept weist über das konkrete Motiv, über das Individuum hinaus. Der liegende, nur in ein Tuch gehüllte Körper Christi steht für die geschundene Kreatur auch jenseits des christlichen Kontextes und vermittelt eine Ahnung vom Schmerz beim Anblick der in Tüchern eingeschlagenen Opfer von Erdbeben oder des Tsunamis 2004. 
 
Im Cranach-Wettbewerb 2015 wurden Edgar Knoblochs Kreidezeichnungen mit dem Preis der Stiftung für Christliche Kunst Wittenberg ausgezeichnet und angekauft.  

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