„…hinabgestiegen in das Reich des Todes… “ Kokoschkas Darstellung von Christus im Limbus
Von Prof. Dr. Bernd Lindemann, Berlin
Abendmahl, Gethsemane, Judaskuss, Kreuzigung, Christus im Limbus (Auferstehung): Diese Blätter aus dem Jahr 1916 von Oskar Kokoschka wurden in der letzten Ausstellung der Stiftung Christliche Kunst gemeinsam gezeigt. Die Arbeiten sind relativ düster gehalten, selbst die Darstellung des Abendmahls, das in der christlichen Ikonographie eigentlich nie in derart nächtlichem Dunkel wiedergegeben wurde. Im Folgenden soll die Konzentration auf der Darstellung von Christus im Limbus liegen, handelt es sich doch hier, soweit ich es überblicke, um eine in der Moderne eher selten wiedergegebene Episode aus der Passions- und Auferstehungsüberlieferung.
Das Blatt ist eine Lithographie, genauer eine Kreidelithographie. Die Lithographie, der Steindruck, ist eine relativ junge graphische Kunst, erfunden erst in den 1790er Jahren von Alois Senefelder. S ie beruht auf dem Prinzip, dass Fett und Wasser sich abstoßen. Druckstock war, anders als bei Holzschnitt oder Kupferstich, eine Platte, idealerweise aus Solnhofener Stein, auf den direkt mit fetthaltiger Kreide oder Tusche gezeichnet wird (später wurde auch mit anderen Trägern experimentiert). Die Technik erlaubt verblüffend getreue Wiedergaben von Feder- oder Kreidezeichnungen, weshalb es nicht verwundern kann, dass sie von den Künstlern dankbar aufgegriffen wurde. Und gerade im frühen 20. Jahrhundert, als die Druckgraphik, zumal in der Form von Mappenwerken, große Konjunktur hatte (sie waren eine Möglichkeit, Kunst preiswert für breite Käuferschichten anzubieten), fand die Lithographie weite Verbreitung ‒ dies umso mehr, als sich von den Drucksteinen jeweils sehr zahlreiche Abzüge herstellen ließen.
Auf unserem Blatt erscheint in der Bildmitte Christus, mit dem Vexillum, der Siegesfahne als Symbol des Triumphs über den Tod, die Rechte zum Segensgestus erhoben. Er ist umgeben von Lichtschein, flankiert links und rechts von Strukturen wie Felsformationen durchbricht er den Eingang des Limbus, der Vorhölle. Sechs Personen umgeben ihn, darunter ein Kind, das sich schutzsuchend an eine Frau schmiegt. Die Figuren sind allesamt Akte, wie auch der Auferstandene selbst; ihre Benennung freilich ist schwierig ‒ die Figur mit dem Kind links ist vielleicht Eva mit Abel? Zwei der liegenden Figuren recken ihre Arme hilfesuchend empor; gefasster reagieren die Frau links sowie der Mann rechts auf das Geschehen. Die Frau streckt zudem ihren linken Arm in Richtung des Auferstandenen aus, wie um die übrigen auf diesen Augenblick der Erlösung aufmerksam zu machen.
Die Darstellung ist gestaltet wie aus der Perspektive des Limbus heraus, als hielten sich Künstler und Betrachter selber in dieser Vorhölle auf ‒ anders als in Darstellungen etwa des frühen 16. Jahrhunderts; dort wird die Szenerie üblicherweise von außerhalb gesehen, wie etwa bei Albrecht Dürer. Das Dunkel der Vorhölle ist in heftigen schwarzen Schraffen wiedergegeben, aus denen das Vexillum über den oberen „Bildrand“ hinausragt; die Figuren jedoch sind auffallend hell hervorgehoben. Das Bild hat lediglich Andeutungen einer Rahmung (man beachte die feinen Linien oben rechts, unten links sowie unterhalb der Darstellung). Als tatsächliche Begrenzung des Bildfeldes treten lediglich die Grenzen des Lithographiesteins und dessen Tonigkeit in Erscheinung.
Thema des Blattes ist die Erlösung der Gerechten des Alten Testaments im Verlauf der Reise Christi in den Limbus. Im Evangelium findet sich hierzu kein eindeutiger Beleg; lediglich jeweils eine kurze Parallelstelle im Petrusbrief und im Epheserbrief lassen sich darauf beziehen. Zugrunde liegt der Gedanke, dass auch den Seelen jener Menschenkinder, die vor dem Erlösungswerk Jesu lebten, dennoch die Errettung zuteilwerden sollte, so sie ein gottgefälliges Leben führten oder sonst wie teilhatten an all dem, was für die christliche Wahrheit und Heilsgeschichte wesentlich werden sollte ‒ auf diese Weise konnten selbst die Seelen heidnischer griechischer Philosophen wie Aristoteles in den Ruch kommen, der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden.
Es scheint freilich einen Widerspruch zwischen der Überschrift dieses Beitrags und Oskar Kokoschka zu geben, so wir uns diesen, geboren in Pöchlarn in der Nähe des österreichischen Klosters Melk, als katholisch sozialisierten Menschen denken: Zwar heißt es in dem in protestantischen Kirchen gebeteten Glaubensbekenntnis „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ („niedergefahren zur Hölle“). Schlage ich aber den Schott auf, die deutsch-lateinische Volksausgabe des katholischen Missale Romanum, so fehlt dort an gleicher Stelle die Erwähnung der Höllenfahrt, der Reise Christi in die Unterwelt: Nach dem Begräbnis folgt unmittelbar die Auferstehung.
Aber: In Lukas 23,43 spricht der Gekreuzigte zu dem guten Schächer, der später als Dismas im Ruch der Heiligkeit stehen sollte: „Heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein“. Dies kann, und so wurde es verstanden, nichts anderes bedeuten, als dass Christus sein Erlösungsversprechen nach seinem Tod unmittelbar ins Werk setzte. Cornelius a Lapide (1567-1637), ein vielgelesener jesuitischer Autor der katholischen Reform, widmet dieser Überzeugung in seinem Evangelienkommentar einen eigenen Absatz. Christus sei nach seinem Kreuzestod nicht unmittelbar zum Himmel aufgefahren, sondern mit dem gerechten Schächer hinabgestiegen in den Limbus, wo sich auch die Väter des Alten Testaments befanden. So machte der Erlöser aus dem Limbus das Paradies, damit die Untersten zu den Höchsten würden, ja, damit aus dem Inferno der Himmel werde. Denn, so Cornelius weiter, wo Christus sei, dort sei das Paradies, wo Gottesschau und Glückseligkeit sei, dort sei der Himmel. Cornelius kann sich in diesem Zusammenhang einen Seitenhieb auf „die Griechen“, die Calvinisten und „andere Neuerer“ nicht verkneifen: dass nämlich die vollkommen von der Sünde Gereinigten nicht bis zum Jüngsten Tage schlafen, sondern (durch Christi Rettungstat) auf der Stelle Gott schauen und glücklich werden durch eben diese Schau.
Dies kann erklären, warum, offenkundig unabhängig vom Wortlaut des Glaubensbekenntnisses, in der katholisch geprägten Ikonographie über die Jahrhunderte hinweg das Thema vom Erlöser, der triumphierend die Gerechten aus dem Limbus befreit, eine größere Rolle spielt als in der protestantischen Bilderwelt; so zum Beispiel noch in einem Deckenfresko aus dem 18. Jahrhundert, das Cosmas Damian Asam für die Klosterkirche in Aldersbach schuf. Kokoschka also dürfen wir uns vorstellen als Künstler und Menschen, der sich selbst vielleicht gar nicht mehr als besonders fromm verstand, der aber doch immer noch intensiv einem spezifisch katholischen Bilderbe verhaftet blieb.