Wilhelm Lehmbruck

Auf ein Wort

Von Dr. Katja Schneider-Stief Kunsthistorikerin, Halle

Der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck zählt zu jenen Künstlern, die im frühen 20. Jahrhundert der in Form und Aussage erstarrten historistischen wie naturalistischen Plastik kein erzählendes, sondern ein gedankliches, expressives Menschenbild entgegensetzen. Seine in sich gekehrten, vergeistigten Figuren sprechen von existentiellen Empfindungen. Im kunstrevolutionären Paris, wohin er 1910 übersiedelt, feiert er seine ersten Erfolge. Hier setzt auch sein zeichnerisches und graphisches Werk ein. In vier Jahren entstehen über 200 Radierungen. Sie sind seine „Disegni“, keine für die Ausführung bestimmten Bildhauerzeichnungen, sondern prozesshafte Skizzen, in denen er Ideen entwickelt und seine Figuren schemenhaft, mit spröden Linien umreißt. In ihnen geht es um Komposition, um Inhalt und geistigen Gehalt, nicht um Geste oder Erzählung.

Lehmbrucks Bildentwurf für die Kaltnadelradierung „Kreuzigung“ aus dem Jahr 1912 führt dies anschaulich vor Augen und besticht durch seine rhythmische Komposition und dynamische Ausdruckskraft. Der hier vorliegende Abzug ist in der Platte signiert. Karfreitag ist der Tag des Todes Christi am Kreuz, folgt man dem Johannesevangelium das höchste Fest im Kirchenjahr. Seine Kreuzigung ist unbestritten das wichtigste biblische Thema in der Kunst. Ihre Darstellung hat eine tradierte Ikonographie. Wird Christus in frühen Andachtsbildern stets als siegreicher Erlöser wiedergegeben, so setzt sich im 10. Jahrhundert die Darstellung des leidenden, menschlichen Gekreuzigten durch, des toten Christus, der am Kreuz hängt. Zu seinen Füßen stehen üblicherweise seine Mutter Maria und sein Lieblingsjünger Johannes. Oft kommen noch die drei Marien, Maria von Magdala, Maria Salome und Maria Jacobi hinzu, gelegentlich auch der gute und der schlechte Schächer, manchmal sogar der Hauptmann, der im Angesicht des Todes Christi erkennt: „Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen.“ Lehmbrucks Darstellung geht über alle ikonographischen Konventionen hinaus. Sein Christus ist nicht nur ein leidender Christus, sondern auch ein tröstender. Er beugt sich zu den Trauernden herab, wendet sich ihnen zu, als wolle er sie umarmen – eine Geste von Zuneigung und Liebe. Die Figuren zu Füßen des schwebenden Kreuzes, eine nackte Frau und ein kniender Mann, strecken ihm ihre Hände flehend entgegen. Linkerhand des Kreuzes ist eine dynamisch bewegte Gruppe sich umarmender, aneinander klammernder und hinabzustürzender Figuren zu sehen, die bis in den Vordergrund reicht. Alle Gestalten sind nur schemenhaft wiedergegeben, ihre Gesichter ohne persönliche Züge – so konzentriert sich die Wahrnehmung des Betrachters auf ihre emotionale Ausdruckskraft, auf ihr Flehen um Rettung und auf die Erlösung, für die Christus steht.

Diese Kreuzigung ist ein Bild tiefer Sehnsucht. Sie entstand zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, den Lehmbruck als Sanitäter erlebt. 1918 wiederholt er die Szene, beschränkt sie auf Christus und die flehenden Gestalten und verdichtet damit ihre Aussage zu Angst, Leid und Untergang. Ein verzweifelter Aufschrei des Künstlers. Ein Jahr später wählt er den Freitod.

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