Von Dr. Gisela Meister-Scheufelen Stellvertretende Vositzende des Kuratoriums Lenningen
Nach dem 1. Buch Mose war Kain der erste Sohn von Adam und Eva, Abel der Zweitgeborene. Kain, der Ackerbauer, war neidisch auf seinen Bruder Abel, den Hirten, weil Gott dessen Opfer vorzog, und er erschlug seinen Bruder aus Hass. Damit wurde er zum ersten Mörder. Kain wurde für seine Tat von Gott verstoßen. Damit er aber nicht als Brudermörder selbst erschlagen werde, machte Gott ein Zeichen an Kain, um ihm eine Chance für ein gewaltfreies Leben zu geben. Das Kainsmal ist also sowohl das Erkennungszeichen des Mörders als auch ein Schutzzeichen, das ihn vor einem gewaltsamen Tode bewahrt. Josephus Flavius beschreibt Kain als sehr schlechten Menschen und seine Nachkommen als mordend, vergewaltigend, sich bereichernd. Von den ersten Christen wurde Abels Ermordung als Vorläufer aller Vergehen an Unschuldigen begriffen. Die Ermordung Abels durch Kain wird häufig als Symbol für den Opfertod Jesu Christi gesehen.
Wolfgang Mattheuer übersetzt diese zentrale biblische Erzählung in eine brillante realistische Bildlichkeit mit surrealen Zügen. Er zeigt hier nicht den Moment, in dem Kain seinen Bruder tötet, wie jahrhundertelang etliche Maler vor ihm. Sondern er widmet sich dem Moment kurz nach der Tat. Abel liegt nicht am Boden. Er steht aufrecht, seine Hände vermutlich auf die Stichwunde gepresst. Seinen Kopf hat er gen Himmel gewandt. Will er Gott fragen: „Warum, mein Gott, warum tötet er mich, einen Unschuldigen?“ Im Gegensatz dazu läuft Kain in gebückter Haltung, mit dem Mordwerkzeug in der Hand, weg. Sein schwerer Körper unterstreicht die Gewalttätigkeit, seine Körperhaltung die Niedertracht. Mattheuer wählt als Mordwerkzeug nicht einen Stein, sondern ein Messer und versetzt das Geschehen damit in die Gegenwart. Es gelingt ihm, diesen ersten Mord der von Gott erschaffenen Menschen als das schlechthin Böse darzustellen. Das Bild lässt keinen Zweifel an der Tat aufkommen, wer Opfer und wer Täter ist. Im Hintergrund sieht man eine Stadt als Zeichen der modernen Zivilisation, in die das Geschehen projiziert wird. Ein Kind sucht entsetzt Schutz bei seiner Mutter – im Anblick einer Gewalttat, die sinnbildlich für unzählige in der Menschheitsgeschichte steht.
Wolfgang Mattheuer, 1927 in Reichenbach (Vogtland) geboren, 2004 in Leipzig gestorben, war Grafiker, Maler und Bildhauer. Er begründete in den 1970er Jahren gemeinsam u. a. mit Werner Tübke und Bernhard Heisig die Leipziger Schule. 1988 trat er aus der SED aus und nahm an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil. Er gehört zu den bekanntesten Malern der DDR und der deutschen Gegenwart.