„Am liebsten bin ich Kulturkuppler.“
Interview mit Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland
In der Berliner Parochialkirche ist noch bis zum 20. Mai 2024 die Ausstellung „Kunstraum Parochial – 12 Variationen zur Auferstehung“ zu sehen. Sie zeigt erstmals im Zusammenhang die 12 großformatigen Bilder, die im Rahmen eines Kunstprojektes der Stiftung Stadtmuseum Berlin vom Juni 2021 bis Juni 2023 im „Kunstraum Kraut“ des Museums Nikolaikirche Berlin zu sehen waren. Die kuratorische Leitung hat erneut Albrecht Henkys übernommen (Wir berichteten dazu im NL 3/2023.). Die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Parochialkirche, von außen vollständig rekonstruiert, ist jedoch im Inneren noch bis heute von Spuren der Zerstörung gekennzeichnet. An diesem „verwundeten“ Ort entwickeln die Bilder ihr besonderes Potential. Es kommt zu einem künstlerischen Dialog „zwischen Gegenwart und Ewigkeit, Heilsversprechen und globaler Wirklichkeit“. Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen dem „Stadtmuseum unterwegs“, dem Kulturbüro der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Kirchengemeinde St. Marien-Friedrichswerder. Anlässlich der Ausstellungseröffnung entstand das folgende Interview mit Dr. Johann Hinrich Claussen, dem Kulturbeauftragten der EKD. Das Interview führten Hanna Kasparick und Jörg Sandau.
Lieber Herr Claussen, am Aschermittwoch wurde die Ausstellung „Kunstraum Parochial“ mit einem Gottesdienst eröffnet. Wie ist es eigentlich zu diesem Gemeinschaftsprojekt gekommen? Und was hat Sie im Prozess der Entstehung bewegt? Gab es Überraschendes, vielleicht auch Befremdliches?
Also, erst einmal arbeiten wir als Kulturbüro gern mit dem Stadtmuseum Berlin zusammen, insbesondere mit dem Kurator Albrecht Henkys. Die Arbeit mit ihm ist eine Freude. Und das Museum Nikolaikirche liegt mir sehr am Herzen, weil es intensiv zu theologischen und künstlerischen Assoziationen einlädt, wie z. B. im Projekt „Kunstraum Kraut“. In der gleichnamigen Grabkapelle für den Berliner Bankier und Minister Johann Andreas von Kraut (1661-1723) gab es früher ein barockes Gemälde, das Christus im Moment der Auferstehung zeigte. Heute ist davon nur ein schemenhafter Rest erhalten. Doch was für eine Idee, zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler zu bitten, mit diesem Befund und dem Raum etwas zu machen, ein verlorenes Bild durch Neugestaltung wieder ins Bewusstsein zu bringen. Albrecht Henkys hat die Idee dann wunderbar umgesetzt. Als das Projekt im Museum Nikolaikirche abgeschlossen war, blieb die Überlegung, ob es nicht möglich sein könnte, alle 12 entstandenen Arbeiten noch einmal gemeinsam zu zeigen. Da kamen wir schnell auf die Parochialkirche. Eine solche Schau passt zu diesem Raum, seiner unsanierten Rauheit und seiner Verletzbarkeit. Und mit der Berliner Kirchengemeinde St. Marien-Friedrichswerder, die die Verantwortung für die Parochialkirche trägt, kam eine weitere in Kunstdingen versierte Partnerin hinzu. Ich möchte auch meinen Kollegen Klaus-Martin Bresgott erwähnen, der hier viel geleistet hat.
Ein zweiter Aspekt, der zunächst mit einer Irritation zusammenhing, stellte sich bald ein. Man kann in der Gegenwartskunst durchaus christliche Themen finden. Die meisten gehören jedoch in das Umfeld der Passionsgeschichte oder sie nehmen apokalyptische Motive auf. Das „Rein-Positive“ des christlichen Glaubens findet man als Bildmotiv selten. Das hat mich an dieser Ausstellung gereizt. Natürlich lassen sich die Arbeiten, die wir zeigen, nicht auf einen Nenner bringen. Aber sie haben doch alle etwas von einem Aufschwung an sich. Die Beschäftigung mit dem Thema Auferstehung führt aus dem Niedergedrückt-Sein hinaus. Gerade die Bilder um den Altar in der Apsis halten farbenfroh dagegen. Doch, so die Frage, fällt die Auferstehung – im Gegensatz zur Kreuzigung – nicht in besonderer Weise unter das Bilderverbot, weil alle Formen ihrer Verbildlichung in der Gefahr stehen, das Ereignis zu banalisieren? Ich denke, diese Gefahr wird durch die vielfache Brechung des Themas in den vorgestellten Werken gebannt. Ich finde es schön, dass die Künstlerinnen und Künstler es gewagt haben, diese positive Grundgeschichte des Christentums wirklich ins Bild zu setzen und theologisch wie künstlerisch eine Hoffnungsperspektive zu entwickeln. Es ist einfacher, Krisen zu beschreiben, als Hoffnungsbilder zu malen. Und wenn das nicht in einer platten propagandistischen Weise geschieht, sondern mehrfach gebrochen, dann finde ich, ist das etwas, was wir gerade jetzt brauchen. Das verbindet uns, denke ich, auch mit den Menschen der Barockzeit, die noch ganz anders vom plötzlichen Tod und vom Massenelend bedroht waren als wir. Ob sie glaubensstärker waren, weiß ich nicht. Aber es war damals mutig, ein so strahlendes Hoffnungsbild gegen die Todeserfahrungen zu setzen, wie es in der Kapelle Kraut einmal zu sehen war.
Dieses Gemeinschaftsprojekt gibt schon einen guten Einblick in die Arbeit eines Kulturbeauftragten, doch was gibt es daneben noch für Sie zu tun? Wo liegen die Schwerpunkte ihrer Arbeit?
Das eine, was uns im Kulturbüro der EKD viel beschäftigt, ist das Thema zeitgenössische Kultur – wie die Ausstellung zeigt, über die wir gerade besprochen haben. Daran haben wir ein hohes Interesse. Wo begegnen wir Menschen aus der säkularen Kultur, mit denen man etwas gemeinsam auf die Beine stellen kann? Das andere ist: Wir arbeiten gern auch mal mit Jubiläen – weil das tatsächlich auch funktioniert, um wichtige Traditionsgüter neu in die Gegenwart zu bringen. Das ist nicht besonders originell, doch erzählt man zwei, drei Dinge aus dem Zusammenhang, dann merken die Leute, dass das ganz schön interessant ist. In diesem Jahr geht es um „500 Jahre evangelisches Gesangbuch“. Da könnte man ja denken, das ist ein bisschen langweilig. Doch wir haben eine ganze Reihe von schönen Veranstaltungen geplant. Klaus-Martin Bresgott hat für unsere Jubiläumswebsite („Mit-Herz-und-Mund“) z. B. Interviews mit tollen jungen Chorleiterinnen geführt. Und wir haben uns einen „Lebenstraum“ erfüllt: ein Gesangbuch (ungefähr im Pixi-Format) zum Mitnehmen, eine Variante für Ältere, eine für Kinder. Das wird gut angenommen, und es ist uns ja wichtig, nicht nur ein Jubiläum zu feiern und großartige Kirchenmusik aufzuführen, sondern auch Menschen wieder zum Singen zu bringen.
Schließlich habe ich selbst die Freiheit, mich mit aktuellen Fragen und Debatten zu beschäftigen, die gerade dran sind. Da arbeite ich gern mit dem Deutschen Kulturrat zusammen, dem Dachverband Deutscher Kulturverbände. Wir haben gerade für dessen Zeitung „Politik & Kultur“ einen Schwerpunkt über sexualisierte Gewalt herausgebracht. Damit habe ich mich intensiv beschäftigt und vor zwei Jahren auch ein Buch herausgegeben. Mir ist wichtig, dass der zentrale Punkt der Unversehrtheit aus unterschiedlichen Perspektiven und von verschiedenen Institutionen, Branchen und Organisationen gemeinsam betrachtet wird. Was heißt Unversehrtheit z. B. für die Evangelische Kirche, für das Theater, für den Sport? Ich möchte mich aber diesem Thema auf eine Weise stellen, die sich von den üblichen Skandalisierungsmechanismen unterscheidet Dasselbe gilt für das Thema Antisemitismus. Ich möchte zum Fragen anleiten: Was ist Antisemitismus? Wie zeigt er sich? Wie kann ich mit ihm umgehen? Was habe ich selbst mit ihm zu tun?
Last but not least: Es bereitet mir Freude, Leute zusammengebracht. Am liebsten bin ich ein „Kulturkuppler“.
Dazu gleich die nächste Frage. Kunst und Kirche – wie erleben Sie gegenwärtig dieses Verhältnis, wenn Sie mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen sind? Spüren Sie da eine Erwartung? Moderne Kunst und Kirche haben ja auch eine Entfremdungsgeschichte hinter sich.
Insgesamt bemerke ich ein deutliches Interesse daran, auch in Kirchen etwas zu zeigen oder tatsächlich auch einen kirchlichen Auftrag anzunehmen. Kirchen sind Orte, an denen die Kunst schon ist, und es kommen Menschen, die eben nicht jeden Tag in eine Galerie gehen. Das finden viele Künstlerinnen und Künstler interessant. Man hat ein Publikum, das nicht einfach ein Konsumpublikum ist, sondern eine Gemeinde. Wenn sich allerdings Kirchen und Gemeinden für die zeitgenössische Kunst öffnen, dann sollten sie das nicht als eine „beliebige Eventbude“ tun. Es muss schon ein Austausch stattfinden, nicht im Sinne von Vorschrift oder Zensur, aber doch in einem gemeinsamen Ringen. Ich erinnere mich an eine englische Künstlerin. Die hatte eine Ausstellung in einer Kirche und war danach ein bisschen enttäuscht, weil der Pfarrer so freundlich und höflich war und nicht mir ihr in die Diskussion gegangen ist. Sie sagte sinngemäß: „Ich durfte alles machen, was ich wollte. Das fand ich langweilig.“ Verantwortliche in den Gemeinden sollte also ruhig fragen: „Lasst ihr Künstlerinnen und Künstler euch auch wirklich auf den Raum und seine Geschichte ein? Auf die Leute, die in ihm leben und feiern?“ Durch Selbstbewusstsein auf beiden Seiten entsteht Reibung, wird die Begegnung produktiv.
Wie schätzen Sie denn die Situation in den Gemeinden ein? Gibt es genug Menschen, die sich solche Aktivitäten im Feld von Kunst und Kirche auf die Fahnen schreiben?
Ich kenne einen netten amerikanischen Kollegen, der hat mal versucht zu recherchieren, wo überall auf der Welt Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Kirchen stattfinden. Der hat bei seinen Nachforschungen den Eindruck gewonnen, dass nirgendwo so viel geschieht wie in Deutschland. Und ich denke auch: Es gibt viel Bereitschaft. Nicht immer die Mittel, nicht immer die Kompetenz – alles klar. Aber es gibt doch eine hohe Bereitschaft, sich dem zeitgenössischen Kunstschaffen auszusetzten. Natürlich lebt das immer vom Engagement Einzelner. Es muss Menschen geben, die begeistert sind und andere begeistern können. Nicht jeder kann mit zeitgenössischer Kunst etwas anfangen. Aber ich staune schon, wie viel Kompetenz und Leidenschaft es hier gibt, wie viel Neugier auch auf regionale Künstler, die noch nicht berühmt sind, oder auch in der Diakonie, wo viel mit Kunst gearbeitet wird. Ich würde also weniger klagen, sondern lieber schauen, wo etwas passiert und sich entwickelt.
Gibt es noch ein konkretes Vorhaben, von dem Sie berichten möchten?
Dann erzähle ich Ihnen von meinem aktuellen Lieblingsbild, auf das ich in meiner Arbeit an einem neuen Buch, gestoßen bin; von einer Geschichte der christlichen Kunst, die zu Weihnachten erscheinen wird. Bei meinen Recherchen stieß ich auf eine spezielle Bildergruppe aus dem kolonialen Mexiko. Durch diese Bilder wollten die Kreolen, die mexikanischen Spanier, den spanischen Spaniern mitteilen, wo eigentlich das gelobte Land liegt: natürlich in Mexiko. Dafür steht die „Jungfrau von Guadalupe“, das wirklich wahre und echte Gnadenbild. In dem genannten Zyklus aus dem 18. Jahrhundert wird gezeigt, wie der liebe Gott selbst die Jungfrau malt – im Himmel, umgeben von Engelchen. Gott, der Sohn Jesus Christus, flüstert ihm dabei ins Ohr. Und auch die Taube, der Heilige Geist, ist präsent. Diese Komposition stellt sozusagen eine Radikalisierung der Theorie vom wahren Gnadenbild dar. Denn dieses ist nicht von Lukas gemalt oder sonst irgendwie gemacht, sondern Gott selbst ist sein Urheber. Und zwar in Mexiko. Ich warte gerade noch auf die Bildrechte aus dem Museum der Basilika von Guadalupe und hoffe, sie bald zu erhalten.
Lieber Herr Claussen, dann wünschen wir Ihnen guten Erfolg und danken herzlich für das Gespräch.